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Geschichte und Gegenwart

Jahrhundertalte Baupraxis

Aufgrund der starken Bewaldung  war Holz in vielen Gebieten der Ukraine leicht verfügbar und erschwinglich. Dies führte zur Beliebtheit dieses Baumaterials über Jahrhunderte hinweg. Während Holz in den Städten ab dem 16. Jahrhundert durch Steinmaterial ersetzt wurde, blieb es in den Dörfern bis ins 20. Jahrhundert das Hauptbaumaterial. Daraus wurden Häusern, Wirtschaftsgebäuden und vor allem Kirchen gebaut (Abb. 1).

Abb. 1: Portal der Kirche des Hl. Basilius der Große, Tscheresche, Oblast Ivanofrankivsk, Foto R. Shyshak.
Abb. 2: Nikolauskirche in Bączal Dolny, Polen, Foto H. Bielamowicz

Der Bestand an Holzkirchen in der Ukraine beläuft sich auf etwa 2.400 Gebäude. Sie wurden von Gläubigen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (Kyiver Patriarchat), Autokephalen Orthodoxen Kirche, Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) sowie der Griechisch-Katholischen Kirche aufgebaut und benutzt. Als Orte des Glaubens und der Gemeinschaft bilden die historischen Holzkirchen einen wichtigen Bezugspunkt des kulturellen Selbstverständnisses der Ukrainer:innen. Zugleich verbinden sie die Ukraine mit ihren europäischen Nachbarn, wo ähnliche historische Zeugnisse – wie etwa in Polen (Abb. 2) oder Rumänien – vorhanden sind.

Diese wertvollen Zeugen einer jahrhundertealten Baupraxis prägten die Kultur in der Ukraine und die Erscheinung ihrer Siedlungen bis in das 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Die älteste vorhandene Holzkirche in Potelysch ist 1502 datiert. Es wird jedoch vermutet, dass in vielen später erbauten Kirchen Baumaterial aus den Vorgängerbauten wiederverwendet wurde. Denn der große Vorteil der in Holzkirchen verwendeten Technik der Blockbauweise besteht darin, dass sie abgebaut und am gleichen oder einem anderen Ort wiederaufgebaut werden können, was öfter geschah, wenn eine Renovierung oder Erweiterung notwendig war. Die Kirchen in Kryvka (Abb. 3) und  Oleksandrivka liefern ein Beispiel dafür.

Abb. 3: Die Hirche in Kryvka wurde abgebaut um in Lviv (1930) neuaufgestellt zu werden, Foto: Dokumentation Klymentiy Sheptytsky Museum, Lviv.
Abb. 4: Verschiedene Grundrisstypen der Holzkirchen, nach: Taras 2006, S. 29.

Durch die spezifischen Anforderungen der orthodoxen Liturgie bedingt haben die Holzkirchen eine ähnliche räumliche Grundstruktur gemeinsam, die aus der byzantinischen Tradition abgeleitet wurde. Sie sind überwiegend dreiteilig und setzten sich aus dem Vorraum im Westen (auch Pronaos oder Narthex genannt), dem Hauptversammlungsraum (Naos) in der Mitte und dem Sanktuarium mit dem Altar im Osten.

Der Altarraum wird vor dem Laienraum durch eine Ikonostase, d.h. einer Bildwand aus Ikonen getrennt (Abb. 5). Auf den Wänden vieler Kirchen wurden die Szenen aus dem Leben und Passion Christi, weitere biblische Sujets sowie Darstellungen der Heiligen und Propheten gemalt, wie z.B. in der Kirche in Oleksandrivka (Abb. 6). Holzelemente, wie etwa das Portal der St. Georg Kirche in Drohobytsch, werden manchmal mit Schnitzereien dekoriert (Abb. 7).

Abb. 5: Die Ikonostase der Dreifaltigkeitskirche in Zhovkva, 17. Jahrhundert, Foto I. Martiniv.
Abb. 6: Stefan Terebelskyj, Wandmalereien in der Kirche der Hl. Paraskieva in Oleksandrivka, 1779, Foto A. Kutnyi.
Abb. 7: Das Portal der St. Georg Kirche in Drohobytsch, Foto R. Shyshak.
Abb. 8: Dreifaltigkeitskirche in Schowkwa, 1720, Foto Klementy Sheptytskyi Museum, Lviv.

So wie vielfältig die natürlichen und die kulturellen Landschaften innerhalb des umfassenden Landesgebietes der Ukraine sind, so auffallend sind auch die regionalen Spezifika der Holzkirchen. Mit der Zeit haben sich unterschiedliche Typen entwickelt, deren Namen sich entweder auf die Regionen, in denen sie vorkommen, oder auf die ethnischen Gruppen, die sie geprägt haben, beziehen. Unter 15 verschiedenen Haupt- und Mischtypen kann man zum Beispiel den galizischen Typus (in der Region Galizien) oder den Lemko-Typus (nach der Lemko-Volksgruppe genannt) unterscheiden. Besonders viele Holzkirchen sind  in der Westukraine in der Karpatenregion vorhanden. Acht dieser Bauten, wurden – zusammen mit acht weiteren aus den Nachbargebieten in Polen und Rumänien 2013 in die UNESCO-Weltkulturliste aufgenommen. Eine von ihnen ist die Dreifaltigkeitskirche in Schowkwa. (Abb. 8).

Von der Bauernkirche zum Denkmal

Abb. 1: Die Kirche in Kuhaiv, 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, Foto: Sammlung A. Salyuk.

Die Wahrnehmung des  traditionellen Holzbaus unterlag über die Zeit dem Wandel. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Holzkirchen immer öfter mit Steinbauten ersetzt, da wo es finanziellen Voraussetzungen dafür gab. Dies führte seit dem 19. Jahrhundert zu einer massiven Reduktion des einstigen Bestandes. Die Abwanderung der Dorfbewohner in die Städte im 20. Jahrhundert und der Bau neuer, größerer Ziegelbaukirchen haben dazu geführt, dass viele Holzkirchen aufgegeben wurden und verfielen langsam, wie die in Kuhaiv (Abb. 1). Grund für diese Entwicklung war auch die Wahrnehmung der bescheidenen Holzkirchen als Ausdruck der Armut: „bäuerlich“ und deshalb weniger wertvoll als die Steinkirchen der oberen Schichten, die meistens polnisch Katholisch oder russisch Orthodox waren. Weil Bauern überwiegend Ukrainer waren bzw. zu den kleineren ethnischen Gruppen wie Bojka oder Lemka gehörten, wurde die soziale und ethnische Trennung auf die Kirchenbauten projiziert.

Die Baumeister  und Auftraggeber der ukrainischen Holzkirchen orientierten sich nicht auf die byzantinische und lokale Tradition sondern rezipierten auch die stilistischen Entwicklungen im westliche Europa. Die Kirchen des Maramursch-Typs werden als Beispiel des Fortlebens der gotischen Tradition betrachtet. Die monumentale Kathedrale der Dreifaltigkeit in Novomoskovsk (Abb. 2) wird dagegen als ukrainische Ausprägung des Barocks interpretiert.

Abb. 2: Kathedrale der Dreifaltigkeit in Novomoskovsk, Foto Bildarchiv Foto Marburg / Pavlo Mameko

Eine zunehmende Wertschätzung erfuhren diese Kirchen erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Architekten, Ethnografen, Kunsthistoriker sie entdeckt haben und als kulturelles Erbe der Ukrainer:innen würdigten (siehe Kapitel: Denkmalpflege und Forschung). Sie haben sich dabei bemüht die Holzarchitektur aus der Nische einer minderwertigen Volksarchitektur herauszuholen indem sie auf ihre besondere Konstruktion sowie auf Analogien zu den Holzbauten in anderen Regionen Europas verwiesen. Zu sowjetischen Zeiten wurden die meisten Kirchen geschlossen und ihre Nutzung für religiöse Zwecke verboten. Sie wurden in Lager oder Museen umgewandelt, wie die Kathedrale von Novomoskovsk. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1991 als sich das Land im Aufbau befand, fehlten oft die Mittel für die Restaurierung oder mussten sie anderen Projekten mit höheren Prioritäten weichen. Seit dem russischen Angriff im Jahr 2014 sind neue Bedrohungen entstanden, die im Kapitel Kulturerbe im Krieg diskutiert werden.

Abb. 3: Auferstehung Christi, Ikone aus der Sammlung des Klymentiy Sheptytsky Museum, Lviv, Foto Museum.

Neben den Dörfer, in denen die Kirchen in ihrem ursprünglichen kulturellen Kontext eingebettet bleiben, sind Freilichtmuseen wichtige Orte der Untersuchung, Erhaltung und Präsentation der Holzkirchen. Solche Museen, in derer Fokus regionale Charakteristika der Holzarchitektur stehen, gibt es in Pyrohiv bei Kiev, Uzhgorod und Lviv. Das Klymenty Sheptytskyj-Museum für Volksarchitektur und ländliches Leben in Lviv wurde 1971 gegründet. Auf 36,6 ha Fläche werden dort sechs Kirchen, fünf Glockentürme und eine Kapelle sowie viele weitere Objekte der weltlichen Holzarchitektur bewahrt. Mitarbeiter:innen des Museums haben etwa 150 wissenschaftliche Expeditionen durchgeführt, in deren Rahmen 1500 Siedlungen in der Westukraine untersucht und mehr als 5000 Interviews mit ihrer Bewohnern durchgeführt wurden. Über die Holzarchitektur hinaus bewahrt das Museum 22.000 weitere Objekte materieller Kultur der ländlichen Gebiete der Westukraine: Textilien, Trachten, Möbel, Skulpturen, Gemälden (Abb. 3), Keramik, Musikinstrumenten, Bücher u.s.w.