„Gut arrangierte Holzstapel“
Es darf davon ausgegangen werden, dass bis in das 18. Jahrhundert das Bauen in Holz auf dem Gebiet der heutigen Ukraine dominierend war und dass sowohl kleine Kirchen wie auch große Kathedralen in Holz ausgeführt worden sind. Der Wandel, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eintrat, ist im Kapitel „Geschichte und Gegenwart/Von der Bauernkirche zum Denkmal“ beschrieben. Er zog nicht nur eine radikale Reduktion der Anzahl der Holzkirchen nach sich, sondern es veränderte sich auch ihre Wahrnehmung. Die verbliebenen kleinen, bescheidenen Holzkirchen seien nichts weiter als gut arrangierte Holzstapel und Ausdruck der Ärmlichkeit des Lebens der ukrainischen Bauern – so mitunter das Urteil noch zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die beiden Weltkriege sowie national konnotierte Konflikte zwischen Polen und Ukrainer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zu weiteren Verlusten des historischen Bestandes. Schließlich ließ das Fehlen fachlicher Kompetenzen und das dünne Netz denkmalpflegerischer Institutionen in der Sowjetunion weitere Holzkirchen verfallen. (Krasny 2012, Kutny 2009, S. 11-13)
Das alles hat für die Forschung und für unser Wissen über dieses kulturelle Erbe weitreichende Folgen. Zum einen sind die ca. 2400 Holzkirchen, die sich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine befinden, nur noch der kleine Rest einer viel umfangreicheren, kaum noch zu rekonstruierenden Baukultur und -geschichte. Zum anderen fanden die Holzkirchen als Bauten vorgeblich nachgeordneter Bedeutung und künstlerischer Qualität nur am Rande Eingang in die großen Narrationen der Kunst- und Architekturgeschichte.
Eigenständige Position in der Kunstgeschichte
Jedoch löste das sukzessive Verschwinden der Holzkirchen eine Faszination für diese Zeugnisse der Architektur- und Kulturgeschichte aus. Im westlichen Teil der heutigen Ukraine, der damals als Königreich Galizien und Lodomerien Teil des Habsburger Reiches war, waren es deutsche, später polnische Historiker, die seit den 1830er Jahren auf den Wert dieser Bauten hinwiesen und sich ihrer Erforschung zuwandten. Unter dem Eindruck dieser zunehmenden Wertschätzung trat die Stigmatisierung der Holzkirchen in den Hintergrund und es begannen, sich auch ukrainische Forscher für diese Werke zu interessieren.
Es galt die Kirchen zu erfassen und ihre Geschichte zu rekonstruieren. Einen ersten Schritt unternahm Julian Zachariewicz (1837-1898), unter dessen Leitung 1883 Architekturstudenten der Technischen Hochschule in Lemberg (Lwów, Lviv) Grundrisse und Fassaden dreier Holzkirchen in den Karpaten (St. Georgskirche, Heiligkreuzkirche in Drohobytsch und die Kirche in Rosdil) vermaßen. (Zabytki sztuki w Polsce 1885). (Abb. 2) Es folgten die Forschungsarbeit von Oleksandr Luschpinkskyj (1874-1944), dessen Zeichnungen auf lange Zeit wichtige Grundlage der Erforschung der Holzkirchen in Galizien blieben (Luschpnskiyj 1920). Die erste große Geschichte der Holzkirchen in der Ukraine legte Mychajlo Dragan (1899-1952) im Jahr 1937 vor. (Abb. 3) Ausgehend von ca. 2500 zeichnerischen bzw. fotografischen Aufnahmen stellte er traditionelle Bautechniken vor, beschrieb und ordnete die Raumformen und die äußere Gestalt der Kirchen und diskutierte deren Herkunft. Insgesamt berücksichtigte er über 670 Kirchen (Dragan 1937).
Bei kaum einem anderen Gegenstand in der Kunstgeschichte, so stellte Dragan fest, drifteten die Meinungen so weit auseinander wie in der Beurteilung der ukrainischen Holzarchitektur. Man stritt darum, woher ihre Formen – die Bautypen mit ihren Raumfolgen, die Gestaltung der Baukörper, die Ornamentik – kämen. Der Wiener Kunsthistoriker Josef Strzygowski (1862-1941) etwa verortete ihren Ursprung in der nordeuropäischen Sakralarchitektur. Wladimir R. Sas-Zaloziecky (1884-1964) wollte in Steinbauten die Vorbilder für die Architektur der Holzkirchen erkennen. (Abb. 4) Kazimierz Mokłowski (1869-1905) wiederum sah das slawische Bauernhaus am Beginn ihrer Entwicklung. Tadeusz Obmiński (1874-1932) leitete die Formen der Holzkirchen aus der Liturgie ab. (Kutny 2009, S. 11-13)
Diese Diskussionen waren in der Zeit, in der sich die nationale ukrainische Bewegung formierte, mehr als nur gelehrter Disput. Es ging darum, wo die ukrainische Architekturgeschichte und die ukrainische Kultur in der europäischen Geschichte zu verorten sei. Dragans Meinung hierzu war deutlich: Nur weil die Baukunst in der Ukraine „in einem undauerhaften Holzmaterial zum Ausdruck“ gelangte, sei sie nicht „als eine minderwertige Art von Kunst zu betrachten“. Im Gegenteil, sie zeige eine besondere Schöpfungskraft. Ihr käme also, so Dragan, eine eigenständige Position in der europäischen Geschichte der Baukunst zu. (Dragan 1937, dt. Zusammenfassung, S. 135)
Perspektiven der Forschung
Ausgehend von diesen Arbeiten wurden das Wissen in den folgenden Jahrzehnten systematisiert und um weitere Studien bereichert. Sukzessiv erarbeitete Typologien ordnen nunmehr den Bestand der Holzkirchen in größere Gruppen. Auf diese Weise lassen sich Entwicklungslinien, regionale und überregionale Beziehungen, spezifische Konstruktionsweisen und Baupraktiken differenziert untersuchen. Jaroslaw Taras hat mit seinem Handbuch zur ukrainischen sakralen Holzarchitektur wesentlich zur Klärung und Systematisierung der Terminologie für die Beschreibung, Ordnung und Analyse dieser Geschichte(n) der Holzkirchen in der Ukraine beigetragen (Taras 2006). Die historische Bauforschung mit ihren Methoden und neue Visualisierungen, wie sie etwa Andrij Kutny in seiner Arbeit zu den Holzkirchen in der Westukraine angewandt hat (Kutny 2009), eröffnen neue Erkenntnispotentiale. (Abb. 5)
Bei alledem blieb und bleibt die übergeordnete Frage danach, wie die Holzarchitektur der Ukraine mit ihrer Spezifik und Bedeutung in einer überregionalen Kunstgeschichte zu verorten ist, in der Forschung virulent. Der Krieg hat diese Frage mit einer neuen Relevanz versehen. Durch ihn ist dieses kulturelle Erbe, das für die Ukraine von besonderem Wert ist aber ebenso darüber hinaus ein einzigartiges Zeugnis menschlicher Kultur darstellt, in besonderer Weise der Gefahr der Zerstörung ausgesetzt – siehe das Kapitel „Kulturerbe im Krieg”